Um die Sterbehilfedebatte ist es verdächtig ruhig geworden. Am 25. November fand die zweite öffentliche Sitzung der Enquetekommission „Würde am Ende des Lebens“ statt – von den Medien nicht einmal ignoriert. Zur Erinnerung: mit einer fulminanten Auftaktveranstaltung nahm diese parlamentarische Arbeitsgruppe erst vor einem Monat ihre Arbeit auf. Dutzende Gäste nahmen damals im Plenarsaal und in der Galerie Platz und lauschten den honorigen Impulsreferenten. Sämtliche Medien berichteten über das wichtige Ereignis, während der ORF für eine Liveübertragung sorgte. Nun herrscht aber erstmals Totenstille und dies obwohl jeder, per Definition, vom Ausgang dieser Debatte betroffen sein könnte und, statistisch gesehen, höchstwahrscheinlich auch sein wird. Der Zeitpunkt für eine Zwischenbilanz scheint nun gekommen zu sein.
„Takes two to tango“ lautete der Titel eines unsterblichen Schlagers, der im Jahr 1952 in der Interpretation Pearl Baileys die US-Hitparade eroberte. Und das, was für einen Tanz gilt, sollte erst recht für eine Debatte gelten. Nicht aber in Österreich im Jahr des Herrn 2014. Zum Thema Sterben ist, zumindest auf parlamentarischer Ebene, keine echte Diskussion erwünscht. Das im Regierungsprogramm 2013-2018 festgelegte Ziel, ausschließlich über „Sterbebegleitung, Hospiz und Palliativversorgung“ zu sprechen – freilich in der „bis zuletzt“ geltenden Form und als Maß aller Dinge in Sachen Sterben in Würde – wird von beiden Koalitionspartnern mit einer selten gesehenen Geschlossenheit auch verfolgt. Die einzige vermeintliche Änderung, die im Auftrag der Regierung sowohl von der Enquete-Kommission als auch von der Bioethikkommission erarbeitet werden soll, betrifft die Verankerung des ohnehin geltenden Sterbehilfeverbots in der Verfassung. Eine sachliche Weiterentwicklung des relevanten Teils der Rechtsordnung sieht freilich anders aus. Worüber soll also überhaupt diskutiert werden? Wo liegen denn echte Differenzen? Diese Fragen blieben vorerst unbeantwortet. Zum erwünschten bundesweiten Ausbau der Palliativversorgung und des Hospiznetzes herrscht ohnehin seit der letzten Enquete zum Thema (und somit seit 13 Jahren) ein Allparteienkonsens, wie es sich sonst meist vermissen lässt. Dass die wahren Probleme, die für die Kluft zwischen dem (damaligen) Soll- und jetzigen Istzustand verantwortlich waren, nun behoben werden könnten, glaubt keiner. Die Ressourcenknappheit wird sich, Kommission hin oder her, fortan nur verschärfen und an Kompetenzverteilungsfragen zwischen Bund und Länder haben sich schon größere und erfahrenere die Zähne ausgebissen. Einzig im Bereich Ministerienzuständigkeit besteht etwas Gestaltungspielraum. Zumindest solange sich beide relevanten Ressorts, nämlich Gesundheit und Soziales, in derselben parteipolitischen Hand befinden.
Was bleibt – und dies hat die letzte Sitzung der Enquetekommission paradehaft veranschaulicht – ist eine No-na-Diskussion, die zunehmend zu einer Selbstdarstellungsveranstaltung der Hilfsorganisationen Österreichs wird – geführt von dem tiefschwarzen Hospizverband und der kirchlichen Caritas. Man lobt die eigene Arbeit, man huldigt die eigenen MitarbeiterInnen, man freut sich über Errungenschaften der Palliativmedizin und wiederholt zum x-ten Mal ein abgedroschenes Kardinal-König-Zitat. Reform- oder – Gott bewahre! – Liberalisierungsbedarf beim Thema Sterbehilfe ortet hingegen niemand. Und warum auch? Schon im Vorfeld haben ja die Regierungsparteien festgelegt, was zum „Sterben in Würde“ gehört und insbesondere was nicht. Von der panischen Angst gezeichnet, zu einem heiklen Thema eine von der Kirchenlinie abweichende Meinung zu äußern, zeigt sich nach wie vor die gesamte Opposition. Vertreter dieser betrachten, so scheint es, eine Ablehnung der von der ÖVP geforderten Verfassungsmanipulation als gelebte Zivilcourage. Die Warnsignale des Dies-könnte-ein-heikles-Thema-sein-Detektors werden ernst genommen. Menschen, die todkrank sind oder unter schweren, unheilbaren Schmerzen leiden und selbstbestimmt den Zeitpunkt ihres Todes festlegen möchten, mögen ihrer Kreativität – alleine – freien Lauf lassen. So zumindest der humanistische Konsens im Hohen Haus. „Es gibt wohl viele, die ganz stolz den Selbstmord eine Feigheit nennen. Sie sollen’s erst probieren; hernach sollen’s reden“ würde womöglich Nestroy dazu sagen.
Vor diesem Hintergrund ist niemandem aufgefallen, dass ÖVP-Seniorenbund-Obmann Andreas Khol, als Hauptarchitekt der geforderten Verfassungsänderung und als einer der letzten, die an diesem undemokratischen Vorhaben noch festhalten, die Nichtdebatte mit Unwahrheiten bereicherte. „In den Niederlanden sind im Jahre 2012 10 Prozent der Todesfälle durch aktive Sterbehilfe, also durch ‚Töten auf Verlangen‘, zustande gekommen. Eine unglaubliche Ziffer!“ ließ der erzkatholische Verfassungsjurist die Enquete-Kommission wissen. Ein paar Stunden später und noch am selben Tag verkündete Khol im Rahmen einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion vor über 80 staunenden ZuhörerInnen, dass in den Niederlanden im Jahre 2013 20 Prozent der Todesfälle durch aktive Sterbehilfe zustande kamen. Als wäre die Forderung nach einer Verfassungsänderung „um einen ähnlichen Dammbruch in Österreich zu verhindern“ nicht ohnehin schon ausreichend sachlich untermauert, legte der emeritierte Universitätsprofessor nach und wies darauf hin, dass eine weitere ihm bekannte Quelle gar von 30(!) Prozent spricht. Öffentlich verfügbare amtliche Zahlen und insbesondere jene, die dem Verfasser dieser Zeilen tags darauf von der Niederländischen Botschaft in Wien freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden, zeichnen freilich ein anderes Bild. Lediglich 3,2 Prozent der Sterbefälle in den Niederlanden im Jahr 2013 waren auf „aktive Sterbehilfe“ (also assistierten Suizid UND töten auf Verlangen) zurückzuführen und die Sterbehilfequote scheint derzeit um die 3 Prozentmarke relativ stabil zu sein. Bekanntlich ist aber die Wahrheit eine Tochter der Zeit.
Soweit zur bisherigen Sterbehilfe-Nichtdebatte.
Mag. Eytan Reif ist Sprecher der laizistischen „Initiative Religion ist Privatsache“ und Mitgründer der vorerst untersagten „Letzte Hilfe – Verein für selbstbestimmtes Sterben